Über einem seitlichen Eingang zum Regensburger Dom grüßt ein heiliger Bischof mit segnender Hand die Eintretenden. Wahrscheinlich wird vielen Menschen diese freundliche Geste gar nicht auffallen. Er schaut auch ein bisschen über die unter ihm Durchgehenden hinweg. Vielleicht ist aber sein Blick eher dem Himmlischen zugewandt und er will uns, die ihn betrachten, ebenfalls in diese Blickrichtung lenken. In der Hand hält der Segnende noch ein Buch. Natürlich denken wir, das wird die Bibel sein. Man meint noch verschwommene Zeilen und Worte auf dem, lange Jahrhunderte der Witterung ausgesetzten, Stein zu erkennen. Welche Seite er wohl ursprünglich aufgeschlagen hatte? Mit welcher Geschichte, mit welchem Psalm, mit welchem Wort Gottes wollte er die Ankommenden einst begrüßen?
Mich interessieren solche Fragen auf die man eigentlich keine endgültige Antwort bekommen wird. Laden Sie doch ein, sich selbst eine auszudenken. In der Bibel werden ja viele Geschichten erzählt. Eine Buchreihe hat sie mal unter Themen gesammelt: Da gibt es Liebesgeschichten, darunter sogar eine ziemlich erotische, natürlich Kriminalgeschichten, auch Arztgeschichten, selbstverständlich Engelsgeschichten, aber auch Gartengeschichten oder Wein- und Festgeschichten, sogar einen Band mit Meeresgeschichten! Es gibt Frauengeschichten, in mehreren biblischen Büchern spielen sie die Hauptrolle, und wir finden Traumgeschichten und sogar Musikgeschichten. Zehn Bände sind daraus geworden.
Viele Geschichten wurden in der Bibel für meinen Geschmack viel zu knapp erzählt. Die biblischen Autoren sind Meister der Kürze, vergleichbar vielleicht nur noch mit dem sparsamen Erzähler Franz Kafka, oder umgekehrt er mit ihnen. So haben diese Erzählungen immer wieder andere Autoren angeregt, sie auszuschmücken oder weiterzuerzählen. Oft, habe ich den Eindruck, brechen sie ab, wenn es am Interessantesten wird, zum Beispiel die Geschichte von Zachäus (Lukas 19,1-10), dem kleinen Zolleinnehmer, der auf einen Baum klettert, damit er Jesus sehen kann, als er durch seinen Ort kommt. Eine der beliebtesten Geschichten in den Kinderbibeln. Dort wird aber leider meist das Ende der Geschichte weggelassen und das Ende hat es in sich. Und gerade dort, dort würde ich gerne wissen, wie es weitergeht mit Zachäus und ob er wirklich die Kurve kriegt und sein Leben ändert, bzw. ob ihn die anderen Leute sein Leben ändern lassen. Aus der Suchtberatung weiß man, dass es manchen ehemaligen Suchtkranken recht gut gelingt, ihr Leben neu aufzubauen, doch kommen plötzlich die nächsten Angehörigen nicht damit zurecht und verhindern oft gegen ihren eigenen Willen, dass der Neuanfang dauerhaft gelingt. Im Überschwang der befreienden Begegnung mit Jesus verspricht Zachäus die Hälfte seines Besitzes den Armen zu geben und diejenigen, die er betrogen hat, vierfach zu entschädigen. Das ist sehr edel gedacht. Ich würde dagegen gerne wissen, wie seine Frau und die Familie auf diese Ankündigung reagieren! Mit dem Geld geht ganz sicher auch ein gutes Stückchen gesellschaftlichen Ansehens verloren, ein Ansehen, dass er als angefeindeter Zöllner dennoch hatte. Und wie wird es an seiner Arbeitsstelle aussehen, wenn Zachäus die ganzen Betrügereien nicht mehr mitmacht? Da sind ja noch seine Kollegen die gerne so weitermachen würden wie bisher. Sie wollen sicherlich nicht auf ihre zusätzlichen Einnahmen verzichten. Und was ist, wenn Zachäus nun wirklich „den Moralischen bekommt“ und sie auffordert ab jetzt ebenfalls ehrlich zu arbeiten? Ich sehe da eine Menge Schwierigkeiten auf Zachäus zukommen. Leichter ist sein Leben durch die Begegnung mit Jesus ganz sicher nicht geworden. Aber jetzt erst wird die Geschichte spannend für unsere heutige Zeit. Vielleicht muss Zachäus seine Arbeit aufgeben? Weil er sie moralisch nicht mehr für tragbar hält? Weil ihn seine weiterhin korrupten Kollegen dazu zwingen? Weil seine Vorgesetzten einen ehrlichen Zollbeamten gar nicht brauchen können? Wie schafft er es als Christ sein neues Leben umzusetzen, ein Leben das er nun vielen Widerständen ausgesetzt sieht? Woher holt er sich Kraft? Wie findet er Unterstützung? Oder bricht er bald enttäuscht wieder ab und führt sein altes Leben weiter? Oder geht er weg und fängt anderswo ganz neu an?
Sicherlich stellen sich andere Leser ganz andere Fragen als ich oder finden eine andere sinnvolle Fortsetzung. Wie können wir heute diese Geschichte weiterzählen oder die vielen anderen Geschichten, wie die von der Witwe, die keine Geduld mehr mit dem Richter hatte, oder das Mädchen, das gar nicht tot gewesen sein soll, oder… es sind ja noch so viele Geschichten. Vielleicht sind die Seiten des Buches, das der segnenden Bischof in den Händen hält, deswegen leer geblieben. Damit die vielen Geschichten unseres Lebens darauf Platz finden.