Gedanken zur Jahreslosung 2019: Suche den Frieden und jage ihm nach (Psalm 34,15) anhand der Geschichte von Werner Reiser „Der Engel, der nicht singen wollte“
Der himmlische Chor ist durcheinandergeraten. Ein kleiner Engel hört mit einem Mal auf zu singen. Er schweigt und bringt dadurch die himmlische Harmonie des Chores ins Wanken.
Ein kleiner Engel hört auf mit dem Singen. Er hat nachgedacht über den Text, den sie alle so herrlich miteinander singen. Er hat den Text verglichen mit der Wirklichkeit der Welt, wie er sie von hier oben, vom Himmel aus beobachten kann. Genau deswegen kann und will er nicht mehr weiter singen.
Es geht gerade noch bis zum „Ehre sei Gott in den Höhen“, so weit, so gut. Aber das folgende „Friede auf Erden unter den Menschen“, das geht nicht mehr, das stimmt, nach der Meinung des kleinen Engels, nun ganz und gar nicht mit der Wirklichkeit überein. Auf Erden herrscht kein Friede. Der kleine Engel hat genau hingesehen und kann belegen, was er behauptet. Es stimmt, das kann und will auch der Großengel nicht widerlegen: Auf Erden herrscht kein Frieden unter den Menschen.
Ein kleiner Engel hoch oben im Himmel hat ein waches Gewissen, das ihm verbietet, diesen hohen Gesang weiter mit zu singen, solange auf Erden nicht wirklich Frieden herrscht. Es käme ihm wohl als Heuchelei vor, hier oben so hübsch vom Frieden zu singen, wenn dort unten Einer gegen den Anderen Gewalt anwendet.
Tatsächlich ist das eine der Gefahren der Weihnachtszeit, dass wir die Weihnachtsstimmung als Betäubungsmittel benutzen.
Einmal, ein einziges Mal im Jahr, nichts sehen und hören wollen von den ganzen Katastrophen, die gemeldet werden, die wir in der Ferne und Nähe mitkriegen und auszuhalten haben. Einmal so richtig abtauchen können in eine andere Welt, in eine heile Welt, in der alles gut und schön ist, einmal völlig ohne Sorgen und Angst sein können. Wir singen Weihnachtslieder und bilden uns ein, für ein paar Tage wäre die Welt in Ordnung.
Dagegen rebelliert der kleine Engel. Er hat Angst, dass diese wunderschönen Lieder ablenken sollen vom eigentlichen Schauplatz des Geschehens, dass diese Melodien verdecken sollen, dass eben nichts und gar nichts in Ordnung ist auf dieser Welt.
Weihnachten geht ein Riss durch unsere Seele. Zu dieser Zeit wird uns nichts schmerzlicher bewusst, als der Zwiespalt zwischen dem tiefen inneren Wunsch nach Friede und dem tatsächlichen Unfrieden dieser Welt und auch dem Unfrieden in unserer allernächsten Umgebung, sogar in uns selbst. Diesen Zwiespalt durchlebt aufs heftigste auch der kleine Engel.
Er möchte sich nicht davonstehlen aus der Verantwortung, die er empfindet für die Menschen der Welt.
Er möchte keine falsche heile Welt aufbauen und so tun, als ob nichts wäre. Denn das wäre für ihn die schlimmste Katastrophe. Gerade zu Weihnachten die Augen zu verschließen, das hieße die Herzen verschließen, keine Liebe, noch Mitleid zuzulassen. Das wäre höchster Verrat an der himmlischen Sache.
Ein strenger Großengel macht den kleinen verstörten Engel darauf aufmerksam, dass an Weihnachten durch die wundersame Geburt des Gottessohnes gerade dieser Zwiespalt überbrückt werden soll: „Das Kind, das geboren wurde“, so erklärt er, „soll unseren Frieden in die Welt bringen. Gott gibt in dieser Nacht seinen Frieden und will auch den Streit der Menschen gegen ihn beenden…. Wir singen das neue Lied.“
Dauerhafter Frieden ist auch in den letzten 2000 Jahren auf Erden nicht geworden. Der Streit der Menschen gegen Gott ist noch zu keinem Ende gekommen. Und doch hat sich etwas verändert: Wir Menschen hören zu Weihnachten dieses neue Lied vom Frieden Gottes für unsere Welt. Dieser Gesang wird uns begleiten, wie er den kleinen Engel begleitet, als er den Auftrag erhält den „Frieden Gottes und dieses Kindes zu den Menschen zu tragen.“
Der Auftrag ist nicht leicht: „Du sollst an ihre Häuser pochen und ihnen die Sehnsucht nach dem Frieden Gottes in die Herzen legen. Du musst bei ihren trotzigen und langwierigen Verhandlungen dabei sein und mitten ins Gewirr der Meinungen und Drohungen deinen Gedanken fallen lassen. Sie werden dir die Tür weisen; aber du wirst auf den Schwellen sitzen bleiben und hartnäckig warten. Du musst ihre heuchlerischen Worte aufdecken und die andern gegen die falschen Töne misstrauisch machen, damit die wahre Meinung zum Vorschein kommt. Du musst die Unschuldigen unter deine Flügel nehmen und ihr Geschrei an uns weiterleiten. Du wirst nichts zu singen haben, du wirst viel zu weinen und zu klagen haben.“
Das neue Lied, das der himmlische Chor für uns an Weihnachten anstimmt, das ahnen wir, wird kein Gesang sein, der uns in eine träumerische Ruhe versetzt.
Im Gegenteil, dieser Gesang wird uns beunruhigen, eben weil er vom Frieden singt, der werden soll hier auf Erden und unter uns Menschen, und hier kein Friede ist.
Wir ahnen, der Auftrag, den der kleine Engel erhalten hat, der ergeht zu Weihnachten auch an uns: Gerade wir Christen sollen in die Welt hinausgehen und die Sehnsucht nach dem Frieden Gottes in die Herzen der Menschen legen und Frieden stiften, so gut es eben geht.
Frieden stiften, das heißt auch dem Unfrieden standhalten, Anfeindungen und Beschimpfungen einstecken, leidvolle Erfahrungen aushalten.
Wer Frieden stiften will, der erfährt erst einmal mit ganzer Wucht den ganzen Unfrieden der Welt. „Du wirst nichts zu singen haben, du wirst viel zu weinen und zu klagen haben“, diese bittere Erfahrung, die der Großengel dem kleinen Engel prophezeit, müssen auch die, oft hoch motivierten, irdischen Friedensstifter machen.
„Dann ging der kleine Engel in die weite Welt und begann zu wirken. Angefochten und immer neu verwundet tut er seither seinen Dienst und sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach dem Frieden nie mehr verschwindet, sondern wächst, Menschen beunruhigt und dazu antreibt, Frieden zu suchen und zu schaffen. Wer sich ihm öffnet und ihm mithilft, hört plötzlich von ferne einen Gesang, der ihn ermutigt, das Werk des Friedens unter den Menschen weiter zu tragen.“
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden“, dieser himmlische Gesang will uns begleiten, wenn wir uns aufmachen in das Jahr 2019 und dem Unfrieden dieser Welt begegnen. Wir tragen aber den Frieden, den das Kind in der Krippe uns schenkt, in unserem Herzen.