„Bäume sind für mich schon immer die eindringlichsten Prediger gewesen“, so bekennt der Missionarssohn Herrmann Hesse in einem kleinen Aufsatz, in dem er sein Staunen über diese wunderbaren Geschöpfe versucht in Sprache zu übersetzen: „Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. … Ein Baum spricht: In mir ist ein Kern, ein Funke, ein Gedanke verborgen, ich bin Leben vom ewigen Leben. … Ein Baum spricht: Meine Kraft ist das Vertrauen. … Ich vertraue, dass Gott in mir ist. Ich vertraue, dass meine Aufgabe heilig ist. Aus diesem Vertrauen lebe ich.“
Bäume, davon war der berühmte Schriftsteller zutiefst überzeugt, können Menschen sogar zur Erkenntnis ihres Selbst führen, zur Erkenntnis ihres Daseins, des Sinns des Lebens. Bei seiner Betrachtung über die Bäume kommt der Nobelpreisträger Hermann Hesse zu dem Schluss: „Wer gelernt hat, Bäumen zuzuhören, begehrt nicht mehr ein Baum zu sein. Er begehrt nichts zu sein, als was er selbst ist. Das ist Heimat. Das ist Glück.“
In unserer biblischen Tradition spielen Bäume in der Regel eine untergeordnete Rolle: Bekannt sind vor allem die Zedern vom Libanon (aus denen Salomo den Tempel bauen lässt) oder die Terebinthen (Steineichen) aus dem Hain von Mamre, wo Abraham von drei geheimnisvollen Männern besucht wird. Gott verspricht Abraham zahllose Nachkommen. Sara muss darüber lachen.
Erinnern wir uns aber an die biblischen Erzählungen über die Anfänge des Lebens. Hier spielen Bäume eine herausragende Rolle in der Schöpfungsgeschichte. Sie bilden mit den Pflanzen die Grundlage des Lebens. Erst aufgrund ihres Daseins finden Tiere und dann auch wir Menschen Möglichkeiten zum Leben. Denken wir allein an die Sauerstoffgewinnung, an den Atem des Lebens.
In der zweiten Paradieserzählung werden wir auf zwei besondere Bäume hingewiesen: „Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.“
Im Nachhinein wünschten wir uns, die ersten Menschen hätten es besser verstanden auf die Botschaft der Bäume zu hören, und sie hätten zu den Früchten des Baumes des Lebens gegriffen. Doch leider ließen sie diesen Baum des Lebens links liegen, und zogen ihm, aufgrund der Einflüsterungen der Schlange, den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen vor.
Eine verhängnisvolle Entscheidung, wie wir wissen. Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen lastet schwer im Gedächtnis der Menschheit. Ausgerechnet der Baum des Lebens geriet in Vergessenheit. Was wäre aus unserem Leben geworden, hätten die ersten Menschen, zu dessen Früchten gegriffen?
In der Nürnberger Lorenzkirche findet sich ein Lebensbaum der besonderen Art. Beim ersten Augenschein ist er nicht unbedingt als ein solcher zu erkennen. Sobald man das Mittelschiff betritt fällt der Blick auf ein mächtiges Kruzifix. Aufgerichtet auf einem farbenfrohen Regenbogen, der von einer Säule zur anderen den Kirchenraum überspannt, erhebt es sich über den Menschen, der nach vorne zum Altarraum gehen möchte.
Erst nach und nach erkennen wir, wie Ranken und Zweige dem Stamm entsprossen, wie sich Blätter entfalten und Früchte erkennen lassen; Weintrauben vor allem. Aus dem toten Holz des Kreuzesstammes treibt neues Leben. Er entpuppt sich als ein lebendiger Baum, so wie Jesus den Menschen als der Auferstandene, als der Lebendige begegnet, als der, der uns neues Leben schenkt.
Jesus, das versucht uns der spätmittelalterliche Künstler deutlich zu machen, ist der Baum des Lebens. Wer von diesen Früchten isst, der wird leben, der wird den Tod nicht schmecken, sondern das ewige, das wahre Leben erfahren. Tod und Auferstehung Jesu Christi eröffnen uns von neuem die ehemals verschlossenen Pforten des Paradieses, durch ihn erlangen wir den Zugang zum Baum des Lebens, wir dürfen nun endlich dessen Früchte essen.
Und so berühren sich schließlich Anfang und Ende. Im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, im letzten Kapitel zeigt uns die Vision das himmlische Jerusalem und eröffnet uns einen Blick ins Herz dieser prächtigen Stadt: „Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall der ausgeht von dem Thron des Lammes; mitten auf dem Platz und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölf mal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.“
Wer diesen Lebensbäumen begegnet, dem eröffnet sich das Leben in seiner unerschöpflichen Fülle. Unter diesen Lebensbäumen, in ihrem Schatten, von ihren Früchten und Heilblättern werden wir einmal leben. Für immer und ewig.